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Wir sind keine autonomen Wesen im Gegenüber zur restlichen Schöpfung. Im Gegenteil wir sind mit ihr untrennbar verbunden. Für diese Erkenntnis bedarf es keiner Philosophie oder Esoterik. Dazu reicht schon eine schlichte Alltagserfahrung. Unser Atem verbindet uns mit allem.
Oder ist es Ihnen schon einmal gelungen, einen Tag ohne zu atmen auszukommen? Sehen Sie! Durch den Atem aber stehen wir im ständigen Austausch mit der Welt. Jedes Sauerstoff-Molekül, das ich einatme, war schon in einem anderen Organismus.
Dies ist eine weitere Erkenntnis aus der Naturwissenschaft: Wir atmen buchstäblich die Welt ein. Der Sauerstoff, den wir zum Leben brauchen, ist das Jahrmillionenwerk der Fotosynthese betreibenden Lebewesen auf dem Land und im Wasser. „Die Luft, die wir atmen,“ schreibt der französische Philosoph Emanuele Coccia, ist „der Atem anderer Lebewesen“.
Wenn wir weiter forschen, können wir zum Beispiel aus Quantenphysik, Evolutionsbiologie und Astrophysik lernen, dass alles mit allem verbunden und alles von allem abgängig ist.
Der Irrglaube, wir seien vom Rest der Welt unabhängig, ist jedoch spätestens seit der Aufklärung zum kaum hinterfragten Bodensatz unseres Denkens geworden. Die jüdisch-christliche Tradition hat daran leider ihren Anteil, da sie lange Zeit den Menschen nicht nur als Sonderfall, sondern auch als ein Gegenüber zum Rest der Schöpfung gesehen hat.
Ein Gefühl von kosmischer Einsamkeit
Unsere große Stärke ist es, zu unterscheiden. Das ist die tatsächlich großartige Fähigkeit unseres Intellekts: zu unterscheiden, zu trennen, auseinanderzudividieren, zu analysieren. Bei näherer Betrachtung sind das alles ziemlich schmerzhafte Ausdrücke.
„Analysieren“ meint in seiner Grundbedeutung „auflösen“. Unsere unglaublich erfolgreichen rationalen Methoden brauchen ein Gegengewicht. Sie brauchen Grenzen, sonst lösen sie auf, was wir unbedingt für ein gelingendes Leben brauchen: Verbindungen, Zusammenhänge, das Gefühl für Verwandtschaft, das gegen Einsamkeit und Leere schützt.
Wir haben uns systematisch von allem anderen getrennt. Wir nehmen die Welt als uns irgendwie umgebende Umwelt wahr, als könnten wir sie von außen betrachten, und wundern uns dann über unser Gefühl kosmischer Einsamkeit.
In Wirklichkeit aber sind wir unauflöslich in das Geflecht der Welt eingebunden und die Welt in uns. „Jede unserer Zellen ist hergestellt aus Teilen der Welt, die wir aufgenommen und verwandelt haben“, schreibt die Schweizer Kulturjournalistin und Philosophin Catherine Newmark. Weil wir das vergessen haben, entsteht die Sinnleere, die viele Menschen empfinden. Dieses Gefühl ist selbstgemacht.
Mit allen Sinnen in die Schöpfung eintauchen
Es ist an der Zeit, an unseren Grundeinstellungen zu arbeiten, um uns wieder als einen dynamischen Teil einer dynamischen Welt zu verstehen und unser Verhalten zu ändern. Glücklicherweise geht das mit sehr einfachen Mitteln.
Vor allem brauchen Sie Ihre Sinne. Ganz nebenbei werden die auch noch geschult, wenn Sie schauend, hörend, riechend, tastend in die Schöpfung eintauchen. Wie das gehen kann, dazu stelle ich Ihnen zwei Übungen vor.
Durch den Atem mit allem verbunden
Den Anfang können Sie schon machen, indem Sie jetzt gleich bewusst auf Ihren Atem achten, eine klassische spirituelle Grundübung: Verändern Sie zunächst nichts, achten Sie nur darauf, wie die Luft in Sie einströmt und ausströmt… Entspannen Sie sich. Achten Sie darauf, wie Ihr Atem ruhiger wird. Genießen sie das!
Sie können auch mit Ihrem Atem spielen: Nehmen Sie einen tiefen Atemzug, atmen sie durch die Nase ein, durch den Mund aus. Atmen Sie hörbar aus, auch mit einem Seufzer…
Kehren Sie zurück zum ruhigen Atem. Wiederholen Sie das, solange Sie Lust haben. Wenn Sie diese Übung in der Natur, auf einer Wiese oder im Wald vollziehen, kommt eine grandiose Dimension hinzu: die Düfte, die Sie mit dem Atem aufnehmen!
Etwas Wissen kann an dieser Stelle nicht schaden, sondern vertieft das Staunen: Wenn Sie einen Geruch wahrnehmen – fruchtig, würzig, holzig, erdig usw. – haben Sie schon längst über die Nase Moleküle anderer Organismen in sich aufgenommen. Sie teilen die Luft mit allen Geschöpfen um Sie herum, mit den Pflanzen, den Tieren.
Etwas vom Sauerstoff, den Sie einatmen, stammt direkt aus dem Gras und den anderen Pflanzen, die Sie umgeben. Er kommt aus ihren Blättern. Mit der Atemluft atmen Sie auch Pollen, Sporen und Bakterien ein – keine Sorge, bis auf seltene Ausnahmen und bei bestimmten Allergien alles ganz harmlos! –, pflanzliches und tierisches Leben also.
In uns allen leben zehnmal mehr einzellige Lebewesen, als unser Körper eigene Zellen hat. Wir sind mit dem Leben um uns herum viel stärker verwoben, als uns normalerweise bewusst ist.
Im Atmen gegenwärtig werden
Das bewusste Atmen ist auch spirituell bedeutsam: Wir, die wir irgendwie immer der Zeit hinterherlaufen, können im bewussten Atmen gegenwärtig werden. Dadurch können wir im Hier und Jetzt ankommen. „Mein Atem heißt / jetzt“ hat Rose Ausländer gedichtet. So gegenwärtig zu werden, ist heilsam.
Denn wirkliche Gegenwart ist das, was uns bei der Art, wie wir leben, am schnellsten verloren geht. Oft hängen wir mit unseren Gedanken noch in der Vergangenheit oder sind schon in der Zukunft. Gegenwart erleben wir immer dann, wenn wir bewusst aus unserem Alltag aussteigen – in der Stille, im Meditieren, im bewussten Atmen, im Beten. Der US-amerikanische Franziskanerpater und spirituelle Lehrer Richard Rohr spricht vom „nackten Nun echten Betens“.
Eine Handvoll Erde
Ein faszinierendes Erlebnis ist es, eine Hand- oder Schaufelvoll Erde zu untersuchen. Damit kommen wir unserem Ursprung besonders nahe, wie ihn die Bibel beschreibt. „Adam“ ist ursprünglich kein Eigenname, sondern Bezeichnung für das besondere Wesen, das Gott aus Erde, hebräisch adamah, geformt hat: „Da machte Gott der HERR den Menschen [ha-adam] aus Staub von der Erde [adamah] und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase“ (1. Mose 2,7).
Bei dieser Übung stehen die sensorischen, die sinnlichen Eindrücke im Mittelpunkt. Nehmen Sie dazu Erde in Ihre Hand. Fühlen Sie: Ist die Erde trocken oder feucht? Körnig oder glatt? Gibt es Steine, Kiesel darin? Schauen Sie: Welche Farbe hat sie? Was entdecken Sie noch? Vielleicht gibt es Pflanzenreste, Wurzeln, Blätter, Moos, Holz.
Vielleicht entdecken Sie auch tierisches Leben darin. Genauer hingucken muss man schon, wenn man Vertreter der sogenannten Urinsekten finden will. Springschwänze sind nur maximal sechs Millimeter groß. Besonders auffällig sind die noch kleineren Kugelspringer, die leicht an ihrem tatsächlich sehr kugelförmigen Körper zu erkennen sind. Besonders mit Kindern macht es Spaß, ihnen zuzusehen, wenn die Tierchen ihrem Namen alle Ehre machen.
Wenn Sie genug geschaut, erforscht, ertastet, gerochen haben, legen Sie die Erde wieder zurück.
Gott ertasten
In der Apostelgeschichte des Lukas spricht Paulus von Gott als Schöpfer, „der allen Leben und Atem und überhaupt alles gibt“ (Apostelgeschichte 17,25) und die Menschen zu hoffnungsvollen Gottsuchenden gemacht hat: Sie sollen „Gott suchen, indem sie sich fragen, ob er denn nicht zu spüren und zu finden sei; denn er ist ja jedem einzelnen unter uns nicht fern“ (Apostelgeschichte 17,27).
An dieser Stelle steht für „spüren“ auf Griechisch das seltene Wort für „berühren“, „fühlen“, „ertasten“. Atemberaubend: Wir sollen also Gott ertasten, spüren, finden in der Schöpfung! Spätestens das macht die Erfahrung mit der Handvoll Erde zum Beginn einer spirituellen Reise.
Auf dieser Reise werden Sie auch Anregungen bekommen, Ihre Gottesbilder neu zu fassen. Womöglich werden Sie inspiriert nach der Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf zu fragen, nach dem Auftrag des Menschen und Ihrem eigenen Platz in dem allem.
Ein spiritueller Weg mit der Schöpfung
Das sind nur zwei Beispiele für eine Vielzahl von wunderbaren, ganzheitlichen Erfahrungen, die Sie auf einem spirituellen Weg mit der Schöpfung machen können. Machen Sie sich also auf den Weg! Gehen Sie raus in die Natur! Schauen, hören, spüren Sie hin!
Dort erwarten Sie Erfahrungen, die Sie bereichern werden, die Sie beleben und ganzheitlich erden. Sie werden erleben, dass sich Ihre Spiritualität und die Faszination und Dankbarkeit für eine Schöpfung, als deren Teil Sie leben, vertiefen werden. Ganz natürlich wird dadurch auch das Bedürfnis wachsen, diesen Lebensraum zu schützen und zu erhalten. Nichts ist gerade wichtiger.
Dirk Woltmann
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Quelle: Mit jedem Atemzug verbunden