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„Wo bist du, Gott?“

erstellt am 06.05.2025 00:00:00

„Vielleicht gibt es Gott ja doch nicht?“ Mirjam Löwen spricht diesen lästigen Gedanken endlich aus. Seit langem kreist er ihr schon im Kopf herum. Sie hadert immer wieder mit Gott: Mit dem, was sie über ihn als Kind gelernt hat und ihrer dazu gegensätzlichen Lebensrealität.

Denn Mirjam sieht 17 Jahre lang dabei zu, wie ihre ältere Schwester Elli zunehmend unter einer unerklärbaren Krankheit leidet. Trotz unzähligen Gebeten der ganzen Familie ändert sich nichts an Ellis Zustand – es wird sogar immer schlimmer. Wieso erhört Gott keines ihrer Gebete? Wenn er doch allmächtig ist und heilen möchte, warum tut er dann nichts in Ellis Leben und befreit sie nicht von ihrer Krankheit? Diese Fragen bewegen Mirjam über Jahre.

Eine behütete Kindheit im Vertrauen auf Gott

Mirjam wächst als jüngstes Kind in einer christlichen Familie auf. Ihr Vater ist Pastor und die Kirchengemeinde spielt eine große Rolle im Leben aller Familienmitglieder. So bekommt Mirjam von klein auf vieles über Gott mit.

Schon als junges Mädchen geht sie mit ihrer Bibel unter dem Arm allein raus in die Natur, um Zeit mit Gott zu verbringen. Sie liest in den Psalmen und redet mit ihm. Für Mirjam sind diese Momente in der Natur allein mit Gott ein wichtiges Ventil. Ein Ventil, auf das sie in sehr schweren Zeiten zurückgreifen wird.

Mirjam beschreibt ihre Kindheit als wunderschön, ruhig, behütet und selig. Und sie ist sich sicher: Gott hört meine Gebete und wendet alles zum Guten!

Ein Tag, der alles verändert

Als Mirjam neun Jahre alt ist, erkrankt ihre fünf Jahre ältere Schwester Elli plötzlich an einer unerklärbaren chronischen Krankheit. Mirjams starke und kühne ältere Schwester, zu der sie aufschaut, verändert sich nach und nach zu einer anderen Person.

Mirjam ist dabei, als sich die Krankheit von Elli bemerkbar macht: Eines Tages spielt sie mit Bausteinen auf dem Fußboden und Elli sitzt im Sessel und liest. Auf einmal fragt Elli Mirjam, welcher Tag heute sei. Mirjam schaut im Kalender nach und antwortet Elli: „Heute ist der 11. Oktober.“ Zwei Minuten später fragt Elli erneut danach.

Mirjam ist verwirrt: Will ihre Schwester einen Spaß machen oder sie ärgern? Das könnte sein, denn Elli macht gern Witze und ist auch mal frech zu ihrer jüngeren Schwester. Mirjam antwortet wieder: „Heute ist der 11. Oktober.“ Ein paar Sekunden vergehen, bis Elli zum dritten Mal dieselbe Frage stellt. Jetzt ist Mirjam klar: Irgendwas stimmt nicht. Sie bekommt Angst um ihre Schwester.

Am nächsten Tag bestätigt sich Mirjams ungutes Gefühl: Ein Neurologe stellt fest, dass Elli eine Hirnhautentzündung hat, auf die eine zweite folgt. Dadurch verliert Elli größtenteils ihr Kurzzeitgedächtnis. Nur ein paar Tage später kann Elli sich morgens plötzlich nicht mehr bewegen und kommt ins Krankenhaus.

Der 11. Oktober 2001 markiert in Mirjams Leben den Beginn von insgesamt 17 Jahren Sorge um Elli.

Nächte auf dem Teppich im Badezimmer

Mirjam teilt sich mit Elli ein Zimmer und bekommt dadurch hautnah mit, wie es ihrer Schwester in rasantem Tempo schlechter geht. Neben dem Gedächtnisverlust leidet Elli an epileptischen Anfällen, Diabetes und dem Stiff-Person-Syndrom, bei dem die Muskeln im Körper sich so verkrampfen, dass Elli plötzlich umfällt.

Circa ein Jahr nach Ellis ersten Symptomen kommen Psychosen hinzu. Die sind für die 10-jährige Mirjam sehr beängstigend und gruselig. Denn während einer Psychose hat Elli auf einmal eine ganz andere Persönlichkeit: Sie schreit unfassbar viel, ist gewalttätig, reißt sich ihre eigenen Haare aus, hat einen anderen Blick und eine andere Stimme.

Nachts wenn alle schlafen, schleicht Mirjam sich manchmal aus dem gemeinsamen Zimmer und schläft auf dem Teppich im Badezimmer.

Ihre ältere Schwester Helena entdeckt sie dort irgendwann und nimmt Mirjam mit zu sich ins Bett und hält sie fest. Helenas Bett ist für Mirjam in dieser Zeit ein Zufluchtsort, denn Ellis Psychosen überfordern sie. Im Rückblick sind die Psychosen für die ganze Familie bis heute das Belastendste an Ellis Krankheit.

Ein „Running Gag“ unter Schwestern

Mit Gott über all das zu sprechen, ist für Mirjam selbstverständlich. Immer wieder bittet sie ihn um Hilfe und darum, dass er Elli heilt und sie irgendwann der Welt von diesem Wunder erzählen können. Auch Elli wünscht sich sehr, gesund zu werden.

Die beiden Schwestern gehen mit diesem Wunsch humorvoll um. Immer wieder machen sie Späße darüber, dass, sobald Elli geheilt ist, sie gemeinsam ihre Geschichte erzählen werden. Weil Elli nicht so gern spricht, wird das Mirjam für sie übernehmen, die damit keine Probleme hat. Diese Abmachung wird zu einer Art „Running Gag“ unter den Schwestern.

„Wenn Gott nicht hilft, wer tut es dann?“

Aber dazu kommt es nie. Denn statt einer Besserung folgt eine Abwärtsspirale. Elli gilt als schwerstbehindert und verbringt über die Jahre viel Zeit in Krankenhäusern, in der Psychiatrie oder im betreuten Wohnen. Es steht fest, dass sie keine Heilungschancen durch die Medizin hat. „Was kaputt ist, kann man nicht mehr reparieren“, erklären die Ärzte Mirjam und den Eltern.

Aber selbst wenn die Ärzte nichts mehr tun können, kann Gott Elli doch heilen. Daran glaubt Mirjam felsenfest.

Aber sie versteht Gott langsam nicht mehr, denn Elli stürzt immer wieder und verletzt sich dabei schwer. Ihr Knie muss operiert werden und nur kurze Zeit später fällt Elli bei einem Krampfanfall erneut auf ihre Knie. Mirjam verzweifelt zunehmend an Gott: Warum hält er Elli als sein Kind nicht fest? Sie bittet ihn doch so oft um Hilfe – wenn er Elli nicht hilft, wer soll es dann tun?

Abstand vom Elternhaus und von Gott

Als Mirjam heiratet, zieht sie von zu Hause aus. Der Abstand tut ihr gut, sie kann nun aufatmen. Aber in ihrem Herzen bleiben die Fragen und Zweifel an Gott. Auch Mirjam selbst verändert sich: Eigentlich ist sie ein positiver Mensch, aber in letzter Zeit ist sie pessimistisch und zynisch.

Sie ringt innerlich mit Gott und kann ihre Zweifel irgendwann nicht mehr leugnen. In einem Gespräch mit ihrem Mann platzt voller Wut aus ihr heraus: „Vielleicht gibt es Gott ja gar nicht? Schließlich greift er nicht ein in Ellis Gesundheitszustand.“

Damit spricht sie endlich aus, was sie sich schon lange heimlich fragt: Gibt es Gott überhaupt? Und wenn es ihn gibt, hat er einfach kein Interesse an ihr und ihrer Familie und heilt ihre Schwester deswegen nicht? Was Mirjam seit ihrer Kindheit über Gott gelernt hat, nämlich, dass er ein liebender Gott ist, der die Menschen sieht, sich für sie interessiert und vor allem Kranke heilt, passt überhaupt nicht zu dem, was sie bis jetzt erlebt hat.

Ihre Zweifel an Gottes Existenz laut auszusprechen ist für Mirjam ein großer Schritt. Als Pastorenkind sollte sie doch trotz allen Schwierigkeiten stets auf Gott vertrauen – das denkt sie zumindest. Aber das kann sie nicht mehr. Es folgt ein Jahr, in dem Mirjam sich von Gott distanziert. Sie betet nicht mehr und geht auch nicht zum Gottesdienst in die Kirchengemeinde.

Besser geht es ihr damit aber nicht. Sie fühlt sich noch einsamer und trauriger als vorher. Sie ist so unruhig und innerlich aufgewühlt wie noch nie. Es ist ein Jahr voller Dunkelheit.

Gott vertrauen? Ganz oder gar nicht!

Mitten in dieser Dunkelheit spürt Mirjam eine Sehnsucht in sich, ein Vermissen nach etwas. Sie fragt sich, was das wohl sein könnte. Die Sehnsucht wird immer stärker und Mirjam ahnt, dass es die Beziehung zu Jesus ist, die sie vermisst. Genau wie sie die Zweifel irgendwann laut aussprechen musste, gibt sie nun zu: „Ich vermisse Jesus. Ich vermisse es, zu glauben. Weil das einfach die Wahrheit ist, und die kann ich nicht einfach so aufgeben.”

Mirjam spürt, dass sie einen Weg finden muss, wie ihre Enttäuschungen gegenüber Gott und der Glaube an seine Liebe zusammenpassen können. Sie kann und will ihre schmerzhaften Erfahrungen nicht ignorieren, sondern mit ihrem Bild von Gott vereinen. Ihr Motto dabei lautet: Entweder ganz oder gar nicht!

Also sortiert sie ihren Glauben neu und hinterfragt alles, was ihr als Kind über Gott beigebracht wurde. Mirjam denkt zum Beispiel darüber nach, mit welcher Haltung sie zu Gott kommt, wenn sie ihn um etwas bittet. Sie fragt sich, wo all ihre Erwartungen gegenüber Gott herkommen und erkennt irgendwann, dass sie sich Gottes Hilfe nicht erarbeiten kann. Mirjam begreift: Am Ende hat Gott die Dinge in der Hand, nicht sie selbst. Bei einer großen Wochenendveranstaltung findet sie schließlich ein neues, tiefes “Ja” zu Gott. Sie fasst Vertrauen in Gott.

Tiefpunkt: Elli erstickt bei einem Anfall

Kurz nachdem Mirjam wieder zu Gott gefunden hat, folgt ein heftiger Tiefpunkt für sie und die ganze Familie: Elli erleidet einen Anfall und erstickt dabei an ihrem Erbrochenem. Ihr Körper verkrampft in einer so ungünstigen Position, dass sie niemand davor bewahren kann. Für einige Minuten ist sie tot, dann kann der Rettungsdienst sie wiederbeleben und Elli kommt ins Krankenhaus auf die Intensivstation. Hier wird sie 10 Tage lang von Maschinen am Leben erhalten.

Elli ist während dieser ganzen Zeit nicht bei Bewusstsein und nach langem Überlegen entscheiden sich die Eltern schließlich, die Geräte abzuschalten. Mirjam begreift zunächst nicht, was gerade passiert. Sie ist Ausnahmesituationen mittlerweile gewöhnt und denkt, dass es auch diesmal wieder gut werden wird. Aber als die Maschinen abgestellt werden sollen, ist ihr bewusst: Elli stirbt!

Mirjam und der Rest der Familie verbringen die nächsten Tage im Krankenhaus. Sie schaut ihrer Schwester dabei zu, wie das Leben langsam aus ihrem Körper weicht. Am Sterbebett hält Mirjam Ellis noch warme Hand. Dabei spürt Mirjam eine tiefe Traurigkeit – aber nicht nur das. Sie spürt außerdem Frieden. Frieden darüber, dass Ellis Sterben ihrem Glauben an Gott nichts anhaben kann.

Die Zweifel sind nicht mehr da: Mirjam fragt sich nicht, wo Gott ist oder warum er Ellis Tod nicht verhindert. Sie weiß viel mehr, dass sie Gott nun an ihrer Seite braucht.

Mirjam liest in der Bibel und wird hier ermutigt, den Schmerz und die Trauer wirklich zuzulassen: Auch Jesus weinte zu seinen Lebzeiten über den Tod eines geliebten Menschen. Obwohl er wusste, dass er Lazarus wieder lebendig machen würde, weinte er auf dem Weg zu dessen Grab.

Das macht Mirjam bewusst: Auch sie darf den Schmerz fühlen und den Verlust ihrer Schwester beweinen. Also trauert Mirjam – sie lässt ihre Gefühle zu. Gleichzeitig tröstet Mirjam der Gedanke, dass Elli nun bei Jesus in der Ewigkeit ist und sie dort nicht mehr unter ihrer Krankheit leiden muss.

Die Traurigkeit über Ellis Tod holt Mirjam in den folgenden Monaten oft mitten im Alltag ein. Zum Beispiel, als sie beim Arbeiten einer früheren Freundin von Elli begegnet. Oder als sie ein Marmeladenglas aus dem Keller holt und sieht, dass Elli das Glas beschriftet hat. In Momenten wie diesen spürt sie besonders schmerzlich, dass Elli fehlt.

„Meine Geschichte muss nicht für Gott sprechen, sondern mein Glaube!“

Ein wichtiger Schritt, um das Erlebte zu verarbeiten und den Verlust von Elli zu betrauern, wird für Mirjam das Schreiben. Wie mit Elli vor Jahren ausgemacht, beschließt Mirjam vier Jahre nach Ellis Tod, die Geschichte ihrer Schwester zu erzählen – obwohl sie kein Happy End hat.

Also schreibt Mirjam alles auf. Sie geht zurück in die Vergangenheit, erinnert sich an schöne und schwere Momente und bringt sie zu Papier. Dabei ist ihr wichtig, nichts zu verschönern oder auszulassen, weil es vermeintlich nicht für Gott spricht, der doch alle Dinge in Ordnung bringen sollte.

Für Mirjam ist der Schreibprozess schrecklich und heilsam zugleich. Es ist, als würde sie eine verheilte Narbe erneut aufreißen und schauen, wie genau sie eigentlich verheilt ist.

Gott spielt hierbei eine wichtige Rolle: Mirjam setzt sich mit ihm intensiv auseinander und versöhnt sich damit, an einen Gott zu glauben, der zwar Wunder tun kann und tut, aber ihre eigene Schwester nicht geheilt hat. Sie erlebt, dass Gott mit ihr gemeinsam in die Vergangenheit schaut, Ungeklärtes aufräumt und Wunden in ihrem Herzen heilt. Sie versteht: “Meine Geschichte muss nicht für Gott sprechen, sondern mein Glaube muss für Gott sprechen.”

Am Ende dieses emotionalen Prozesses steht Ellis Geschichte schwarz auf weiß auf Papier gedruckt und in einem Buch zusammengebunden. „Mutig und stark – meine Schwester Elli“ nennt Mirjam das Buch.

Bei Gott ist nichts unmöglich – auch, wenn er nicht heilt

Heute kann Mirjam bekennen: „Der Maßstab, wie Gott ist, verändert sich nicht. Ich glaube heute zu 100 Prozent, dass Gott Menschen heilt. Ich glaube auch, dass Gott Menschen vom Tod auferwecken kann, weil sich die Bibel nicht verändert hat. Das, was Gott kann, hat sich nicht verändert. Bei Gott ist nichts unmöglich!“

Sie ist sich sicher, dass ihre und Ellis Geschichte nicht dem widersprechen, wer und wie Gott ist.

Daher traut Mirjam sich, die ungeschönte Realität zu erzählen – das, was hart und richtig schlimm war. Heute steht für Mirjam fest: Sie will unabhängig von dem, was ihr im Leben passiert oder begegnet, ihren Glauben an Gott leben und gestalten und ihm auch in den schlimmen Momenten vertrauen.
 

Delia Emmerich


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Quelle: „Wo bist du, Gott?“

von youthweb

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