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Demenz ist eine Krankheit, die mit schmerzhaften Verlusten einhergeht. Denn sie verändert den Menschen in seiner ganzen Persönlichkeit. Vieles, was den Menschen einmal ausmachte, geht im Verlauf der Krankheit verloren. Das Vertraute wird fremd. Schleichend verschwinden Erinnerungen, Wissen und Identität. Diese Veränderungen sind auch für nahestehende Menschen von Betroffenen nur schwer zu ertragen.
Doch was, wenn wir Demenz aus einem anderen Blickwinkel betrachten? Rosa Schaberl widmet sich diesem sensiblen Thema auf eine ganz besondere Weise in ihrem Bilderbuch „Als meine Oma beschloss zu vergessen“. Aus einer kindlichen Perspektive reflektiert sie die Erfahrungen, die sie selbst als Erwachsene mit ihrer an Demenz erkrankten Großmutter gemacht hat. Dabei stellt sie dem Leser eine einfühlsame, fast tröstliche Sichtweise auf das Vergessen vor.
Wenn man alt ist, darf man vergessen
Die geliebte Oma beginnt eines Morgens zu vergessen. Oder vielmehr: Sie beschließt mit dem Vergessen zu beginnen. Das, was Betroffene oft als Hilflosigkeit und Gefühl des Ausgeliefertseins empfinden, wird hier in ein bewusstes Handeln umgedeutet. Bereits der Titel des Buches deutet es an: Das Vergessen wird nicht als Schicksal interpretiert, sondern als Entscheidung.
Der Erklärungsansatz der kleinen Enkeltochter lautet: Weil die Oma schon so alt ist, weiß sie alles, was sie je vom Leben wissen wollte. Deswegen ist es nun an der Zeit, zu vergessen.
Durch die Augen eines Kindes wirkt diese Logik so naiv wie tiefsinnig: Das Vergessen ist eine natürliche Folge des lebenslangen Wissens und Erinnerns. Und es ist Teil des Lebenskreislaufs. Die Autorin erzählt dies bis in die letzte Konsequenz, wenn die Oma am Ende des Buches eines Morgens vergisst aufzuwachen.
„Aber auch das war in Ordnung, denn wenn man im Leben alles schon einmal gewusst hat, wenn man alles schon einmal gelernt und weitergegeben hat, ja sogar alles wieder vergessen hat, dann ist es auch völlig in Ordnung, irgendwann zu vergessen aufzuwachen. Und man darf für immer weiterschlafen.“
Von Keksen und Chaos
Doch bevor der Nebel des Vergessens die Großmutter gänzlich umhüllt, erleben Enkeltochter und Oma noch ein gemeinsames Jahr voller Abenteuer. Zur Weihnachtszeit backt die Oma wie jedes Jahr drei Sorten Kekse. Doch weil sie vergisst, dass sie die Kekse bereits gebacken hat, backt sie immer weiter, bis das Haus zu platzen droht.
Also setzen sich Oma und Enkeltochter gemütlich vor den Kamin und essen so viele Kekse, wie sie wollen und können. Die Erwachsenen kommen in dieser Szene nicht gut weg. Sie sind die Spielverderber, wenn sie über die Keksmassen der backwütigen Oma schimpfen.
Je weiter eine Demenzerkrankung fortschreitet, desto mehr bringt sie Alltag und Haushalt durcheinander. Der fantasievoll bebilderte Keks(alb-)traum ist eine niedliche Interpretation dessen, mit dem Angehörige oft zu kämpfen haben.
Hier hätte ich mir mehr Empathie für die Besorgnis und Mühen der Erwachsenen gewünscht. Denn es handelt sich eben nicht um eine lustige Marotte der Oma, sondern um ein Symptom der Krankheit, das den Figuren im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf wächst.
Kindsein schafft Verbindung
Im Frühling ziehen Oma und Enkeltochter hinaus auf die Wildblumenwiese hinter dem Dorf und flechten Blumenkronen. Dabei erzählt Oma von ihren Kindheitstagen. Dem Vergessen zum Trotz heben die beiden die Schätze und Erinnerungen aus der Vergangenheit der Oma in die Gegenwart. Sie leben gegenwärtig im Moment und dabei vergisst die Oma, dass sie kein junges Mädchen mehr ist.
Besonders in dieser Episode fängt das Buch den kindlichen, intuitiven Umgang mit der Krankheit ein. Statt die Oma zu korrigieren, geht die Enkelin mit an den Ort und in die Zeit, in der Oma im Augenblick ist. Das können Kinder besonders gut: im Spiel versinken, Zeit und Ort vergessen und gegenwärtig sein. Das ist auch hilfreich im Umgang mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind: sich Einlassen auf ihre Welt.
Das Kindsein und das kindliche Erleben schaffen auf ganz natürliche Weise eine Verbindung zwischen Enkeltochter und Großmutter.
Wertvolle Lektionen fürs Leben
Den Sommer verbringen die beiden am Bach und fangen Kaulquappen. Die Oma erklärt, wie daraus ein Frosch wird. Im Herbst streifen sie durch die Wälder und sammeln Maronen. Die Oma bringt der Enkelin bei, wie man die Bäume anhand ihrer Blätter erkennt.
Trotz ihrer Erkrankung gibt die Großmutter ihrer Enkelin noch wertvolle Lektionen weiter. Mir gefällt, dass die Autorin hier das Wissen genauso ins Zentrum rückt wie das Vergessen. Nicht alles ist vergessen! Da ist noch vieles, das von der Demenzkranken erinnert wird, vieles, das sie kann und weiß. Das zu erleben ist für viele Erkrankte eine wichtige Erfahrung, wenn der Alltag mit seinen Aufgaben sie immer mehr herauszufordern und zu überfordern droht.
Doch die Enkelin macht sich Sorgen, dass Oma den Weg nach Hause nicht mehr findet. Weglaufen und sich Verlaufen sind Erfahrungen, die viele Menschen mit Demenz machen. Verloren gehen und sich verloren fühlen ist eine bedrohliche Situation, die Angst macht.
Kinder können das sehr gut nachempfinden, so auch das Mädchen in der Geschichte. Ihr Rettungsanker: Die Laubhaufen, die sie bei ihren Streifzügen durch den Wald zusammengeschoben haben.
Was am Ende bleibt
Die gemeinsamen Erlebnisse tragen das Kind durch die schwierige letzte Phase des Vergessens der Oma: die Enkelin selbst wird zu einer vergessenen Erinnerung. Das ist wohl die schmerzhafteste Erfahrung von Angehörigen: Wenn sie von ihrem geliebten Menschen vergessen werden. An dieser Stelle erlaubt Rosa Schaberl ihrer Figur im Buch, traurig darüber zu sein.
Und dennoch: Wenn das Mädchen von ihren gemeinsamen Abenteuern erzählt, setzt sie dem Vergessen der Oma erneut etwas Kraftvolles entgegen. Denn auch wenn die Geschichten für die Oma nur noch fantastische Erzählungen sein mögen, entfachen sie doch die Erinnerung daran, wie lieb sie dieses Kind hatte.
Fazit
Mit seiner ruhigen Erzählweise und den stimmungsvollen Illustrationen in gedeckten, warmen Farben erzeugt das Buch eine unaufgeregte, aber sehr berührende Atmosphäre. Rosa Schaberl erzählt mit viel Herzenswärme und vermittelt auf ganz natürliche Art und Weise Nähe und Verständnis für ein schwieriges Thema.
Oma und Enkelin in der Geschichte teilen viele Gemeinsamkeiten und Erfahrungen. Damit bietet die Geschichte einen kindgerechten Zugang, um mit Kindern über die Erkrankung der eigenen Großeltern ins Gespräch zu kommen.
Die Geschichte bietet einen kindgerechten Zugang, um mit Kindern über die Erkrankung der eigenen Großeltern ins Gespräch zu kommen.
Jedoch hätte ich mir mehr Raum und Verständnis für die Schwierigkeiten gewünscht, die ein Leben mit Demenz bedeuten. Die Verunsicherung und Verzweiflung, der Frust und die Mühe, die diese Krankheit ins Leben der Betroffenen und Angehörigen bringen, findet nur am Rande Eingang in die Erzählung.
Doch es wird Kindern nicht entgehen, wenn der demente Opa vor Überforderung plötzlich wütend und frustriert ist, möglicherweise sogar schreit und um sich schlägt. Wenn die eigenen Eltern traurig und verzweifelt sind und nicht mehr weiterwissen. Was fühlt ein Kind in solch einer Situation? Auf welche Weise könnte es damit umgehen? Hier hätte die Geschichte durchaus noch Potenzial gehabt.
Nichtsdestotrotz ist „Als meine Oma beschloss zu vergessen“ ein einfühlsames Bilderbuch, das für Kinder im Grundschulalter, aber auch für erwachsene Leser ansprechend ist und Mut macht, die Welt auch in schwierigen Zeiten mit kindlichen Augen zu betrachten.
Vielleicht gelingt es Familien, die gerade mittendrin stecken im Leben mit Demenz, diese Perspektive mitzunehmen in den herausfordernden Alltag mit demenzkranken Menschen.
Sarah-Melissa Loewen
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Quelle: Als meine Oma beschloss zu vergessen