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Von der Freiheit, ein unbequemes Leben zu wählen

erstellt am 03.09.2022 00:00:00


Seine Haare sind grau und schulterlang, er legt eine alte Bluesplatte auf. Ich bin zu Besuch bei Theo Lehmann in Chemnitz, er ist wohl einer der prominentesten Pfarrer der ehemaligen DDR. Warum liebt er den Blues? „Er ist geradlinig und ungekünstelt“, sagt er. Und ich denke: Das passt! Geradlinig und ungekünstelt, so ist Theo Lehmann durch sein langes Leben gegangen.
83 Jahre ist er mittlerweile. Zu DDR-Zeiten füllte er die Kirchen als Jugendevangelist. Seine regimekritischen Witze und die klare Verkündigung des Evangeliums machten ihn zum Staatsfeind.

Regina König (Foto: C. Meier / ERF)
Regina König (Foto: C. Meier / ERF)

Einschüchtern ließ er sich nicht, aber die Angst war sein Begleiter. „Jahrelang habe ich vor dem Einschlafen Angst gehabt, es steht mal einer der ‚Herren‘ um vier Uhr morgens vor dem Bett, um mich zu holen. Später habe ich in den Akten gelesen: Die hatten meinen Schlüssel, sie hätten jederzeit in die Wohnung kommen können.“ Trotz der Bedrohung, Theo Lehmann blieb fest in seinem Entschluss, weiter Klartext auf der Kanzel zu reden. Mehr als 20 Spitzel setzte die Stasi auf ihn an, auch seinen besten Freund. Schweigend sehe ich ihn an. Mir fehlen die Worte, wenn ich solche Erzählungen höre.
 

Volles Risiko – für die Freiheit, für den Glauben

Ich selbst bin in Nordrhein-Westfalen groß geworden, kannte die DDR bis zum Mauerfall nur aus Erzählungen. Meine Familie hatte keine Verwandtschaft „in der Zone“ und ich muss zugeben: weiter hat mich das Land jenseits der Mauer nicht interessiert. Bis zur friedlichen Revolution. Als mein Heimatland Kopf stand, arbeitete ich bei ERF Südtirol in Meran. Und sah die Bilder des Zusammenbruchs der DDR: Genscher in Prag, Menschen fliehen über die ungarische Grenze, die Mauer fällt!

Die Fernsehbilder berührten mich stark. Nach fast fünf Jahren Auslandsaufenthalt in verschiedenen Ländern spürte ich die gemeinsame deutsche Mentalität. Und wunderte mich umso mehr: Diese Deutschen haben so einen starken Freiheitswillen, dass sie alles riskieren, ihr Zuhause, ihre Sicherheit, gar ihr Leben?

Was Christen in ihrem Alltag über Jahrzehnte dulden mussten, konnte ich damals noch nicht ahnen. Aber mir war klar: diese Menschen im Osten unseres Landes will ich kennenlernen. Glücklicherweise suchte der ERF kurz darauf eine Reporterin für Berlin – und so zogen mein Mann und ich in die zukünftige Hauptstadt. Und später mit unseren vier Kindern nach Sachsen. Hier lernte ich verstärkt Christen kennen, die sich zu DDR-Zeiten für ein unbequemes Leben entschieden hatten. Zum Beispiel die Schriftstellerin Caritas Führer. Aufgewachsen in einem Pfarrhaushalt im Erzgebirge, war für sie und ihre Geschwister klar: Eine Mitgliedschaft in der DDR-Jugendorganisation FDJ kommt nicht in Frage. Also konnten sie weder Abitur machen noch studieren.
 

Wie hätte ich entschieden?

Während Caritas Führer erzählt, begreife ich: All die Christen, die mit ihren persönlichen Entscheidungen Rückgrat bewiesen haben, stärkten in ihrer Summe den Geist des Widerstands. Und ich frage mich: Hätte ich genauso viel „aufrechten Gang“ bewiesen, wenn ich in der DDR groß geworden wäre? Meine drei Söhne haben ihr Abitur abgelegt, unsere Tochter ist auf dem Weg dahin. Hätte ich die Standhaftigkeit besessen, ihnen um unseres Glaubens willen ihren beruflichen Weg zu verbauen? Wie hätte ich mich damals entschieden? Hätte ich die Kraft gehabt, die Wahl für ein unbequemes, für ein gefährdetes Leben zu treffen?

Der Theologiestudent und heutige Pfarrer Matthias Storck landete 1979 im Gefängnis, weil er sich gegen die Einführung des Wehrkunde-Unterrichts in Schulen eingesetzt hatte. Auf Oberlandeskirchenrat i. R. Harald Bretschneider, den geistigen Vater der „Schwerter zu Pflugscharen“-Bewegung, verübte die Stasi mit einem fingierten Verkehrsunfall einen Mordanschlag. Als die Friedensgebete in Leipzig Fahrt aufnahmen, fand Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer keinen Schlaf mehr, die Verantwortung drückte ihn nieder. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Sie alle hatten den Mut, eine unbequeme Wahl zu treffen – und haben damit letztendlich mehr als 16 Millionen DDR-Bürgern dazu verholfen, heute selbst die Wahl zu haben: reisend, beruflich, aber auch politisch.

Und rückblickend kann ich sagen: Meine Wahl war richtig, in den Osten zu gehen. Was würde mir fehlen, hätte ich nicht diese geradlinigen und ungekünstelten Christen kennengelernt!

 

Regina König-Wittrin


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Quelle: Von der Freiheit, ein unbequemes Leben zu wählen

von youthweb

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